21.09.2020 | ArcelorMittal Langstahl

Krise der Stahlindustrie: Was wir für eine nachhaltige Erholung tun müssen

Von Lutz Bandusch, CEO Bars and Rods ArcelorMittal Europe – Long Products


Ein hoffnungsvoll optimistischer Blick auf das zweite Halbjahr: Lutz Bandusch, CEO Bars and Rods ArcelorMittal Europe – Long Products

Stahl ist ein Grundstoff des Lebens, ohne den unsere Welt heute nicht vorstellbar ist. Deshalb ist es gar nicht so leicht zu erklären, warum es der Stahlindustrie schlecht geht, wo doch jeder Mensch jeden Tag ihre Erzeugnisse nutzt. Tatsache ist: Der Stahlindustrie in Europa geht es zwar schlecht, doch in China etwa ist die Lage eine ganz andere. Und China ist nicht nur der weltgrößte Stahlproduzent. Trotz der Corona-Krise wächst der Markt dort wieder. Deswegen hat China sogar damit begonnen, Stahl einzuführen. Ein gutes Zeichen für die Weltwirtschaft. Aber es löst die europäischen Probleme nicht.

Was die Situation so schwierig macht, ist, dass es viele Ursachen gibt, die miteinander in Beziehung stehen. Dieselgate etwa. Als eine der wesentlichen Antriebsarten von Autos ist der Dieselmotor durch die Manipulation von Abgaswerten so sehr in die Kritik geraten, dass viele Autofahrer keinen Diesel mehr kaufen. Hinzu kommt die durch Kohlendioxyd, also CO2, getriebene globale Erwärmung. Die seriöse Wissenschaft ist sich da einig: Wollen wir die durch CO2 entstehenden Umweltveränderungen aufhalten, muss der CO2-Gehalt auf der Erde runter. Auch hier hat der Diesel schlechte Karten. Aber andere Verbrennungsmotoren sind nicht viel besser. Also vielleicht mit dem Autokauf noch warten und den Umstieg auf Elektro planen. Das überlegen immer mehr Menschen, aber der Wechsel geht nur langsam voran. Im Moment erlebt der Markt noch eine Kaufzurückhaltung auf der ganzen Linie. Das drückt die Stahlindustrie als Zulieferer besonders.

Hinzu kommen die wirtschaftlichen Auseinandersetzungen mit den USA. Immer mehr Zölle behindern den Handel. Die Folge ist, dass es schwieriger wird, internationale Absatzmärkte zu bedienen. Gleichzeitig werden die Forderungen nach einer weiteren CO2-Reduzierung in der Industrie immer lauter. Das ist möglich – aber teuer. In der Entwicklung. Beim Bau. Und auch beim Betrieb. Denn Wasserstoff kostet deutlich mehr als Erdgas. Damit steigen die Investitions- und die Betriebskosten, während die Absatzmärkte schrumpfen. Als wäre das nicht genug, kämpft die Welt seit Ende letzten Jahres auch noch mit COVID-19. Der Lockdown schützt die Menschen. Aber er belastet die weltweite Wirtschaft und damit auch die Stahlindustrie in praktisch allen Absatzmärkten. Deswegen ist es schwer zu verstehen, warum die EU nach wie vor außereuropäischen Herstellern gestattet, zollfrei Stahl nach Europa zu liefern, der nicht nach unseren CO2-Vorgaben hergestellt wird. Richtig ist: Es verzerrt den Wettbewerb, wenn andere Länder wie etwa die Türkei, Russland oder die Ukraine Stahl nach Europa liefern, der in Unternehmen mit deutlich geringerem Schutz für Gesundheit und Sicherheit mit hohen CO2- Werten hergestellt wird.

Allerdings ist es damit nicht so einfach. Denn die Hersteller von Produkten, die Europa exportiert, also etwa Maschinenbauer oder Autohersteller, freuen sich natürlich, wenn sie ihre Waren günstiger herstellen und damit international wettbewerbsfähig bleiben können. Wer die Einfuhr von billigem Stahl verhindert, riskiert Arbeitsplätze in vielen Bereichen der exportstarken produzierenden Industrie. Für die Politik ist das keine einfache Situation.

Aus unserer Sicht könnte eine ausgleichende Grenzabgabe helfen: Wer einführt, muss dazuzahlen, vor allem dann, wenn er nicht nach unseren Arbeitsschutz- und Umweltstandards produziert. Ein weiterer Punkt: Wasserstoff sollte subventioniert werden, damit er nicht mehr teurer als Erdgas ist. Das schafft Wettbewerbsgleichheit. Und was die stetig steigenden CO2-Abgaben angeht: Die europäische Stahlindustrie erzeugt nur noch acht Prozent der weltweiten Stahlmenge. So schmerzlich die Erkenntnis auch ist: Über die globale Erwärmung wird schon lange nicht mehr in Europa entschieden. Und klar ist zudem: Bauen wir hier weitere Kapazitäten ab, werden sie anderswo auf der Welt zu ungünstigeren Bedingungen wieder aufgebaut.

Was können wir tun? In unseren Werken haben wir bereits ein massives Fixkosten-Sparprogramm installiert. Schichtenreduktionen, Kapazitätsanpassungen und neue Arbeitsmodelle halten Einzug – etwa der von Duisburger Mitarbeitern entwickelte Vorschlag, das Knüppelwalzwerk und die Adjustage nur mehr mit einem Team zu betreiben, das im Wechsel beide Funktionen übernimmt (und dann auch beide beherrschen muss). So erhalten wir Arbeitsplätze und eine größere Bandbreite von Produkten in Duisburg. Eine Chance sind neue Technologien – ein Elektrolichtbogenofen mit Direktreduktion könnte in Duisburg mittelfristig die teure Route mit Roheisen, das durch Kokskohle reduziert wird, ersetzen. Und dabei gleich erneuerbare Energien nutzen. Hier kommen uns die Erfahrungen zugute, die wir in Hamburg bereits mit der Planung unserer neuen, auf Wasserstoff basierenden Anlage machen.

Kostenreduktion, Innovationskraft, fairer Wettbewerb, der Zugang zu wettbewerbsfähiger grüner Energie und eine hoffentlich bald wieder anspringende Konjunktur, für die Deutschland und Europa derzeit viele Impulse geben: Das sind die Rezepte, mit denen wir der Krise heute begegnen. Eine leichte Erholung der Wirtschaft ist für das zweite Halbjahr bereits in Sicht. Ich hoffe mit Ihnen, dass dies die ersten Anzeichen für eine nachhaltige Erholung sind.