Der Grenzgänger

Professor Marc Hölling verbindet Stahlwerk und Hochschule, Theorie und Praxis

„Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie." Das behauptete zumindest der deutsche Aufklärer und Philosoph Immanuel Kant (1724-1804). Und es gibt wahrscheinlich nichts, was der Theorie mehr hilft, als gute Praxis.Dieser zweite Satz könnte von Marc Hölling stammen. Denn der Professor für chemische Verfahrenstechnik ist auf beiden Seiten tätig – als Hochschullehrer und Forscher einerseits und als Ingenieur mit viel Sinn für sehr konkrete praktische Fragestellungen andererseits.

Promotion zu Strömungen

Nach einem Studium der Verfahrenstechnik promovierte Hölling an der TU Hamburg-Harburg – ,Asymptotische Analyse von turbulenten Strömungen bei hohen Rayleigh-Zahlen' heißt der Titel seiner 2006 eingereichten Dissertation. „Das war ein theoretischer Ansatz zur Strömungsberechnung und sicher kein industrienahes Forschungsprojekt", lacht Hölling. „Aber das Thema hat mich sehr interessiert und ich bin da einer sehr spannenden Frage nachgegangen, auf die es lange keine zufriedenstellende Antwort gab."

Beruflicher Start bei Airbus

Immerhin war die Arbeit für ihn so etwas wie eine berufliche Weichenstellung. Strömungsmechanik und Thermodynamik spielen dabei eine große Rolle, Schwerpunktthemen, die heute neben der chemischen Verfahrenstechnik zu seinen Lehrgebieten gehören. Mit Blick auf eine praktische berufliche Tätigkeit lag nach der Promotion für ihn dann der Einstieg bei einem Luftfahrt-Unternehmen nahe - schließlich spielen Strömungen bei Flugzeugen von der Tragfläche bis zur Turbine an vielen Stellen eine wichtige Rolle. Hölling heuerte also bei Airbus an, doch die Strukturen des multinationalen Konzerns waren dem pragmatischen Theoretiker schnell zu träge.

Wechsel zum Stahl

Er wechselte 2007 kurzerhand von der modernen Luftfahrt in die scheinbar traditionelle Grundstoffindustrie bei ArcelorMittal in Hamburg. „Das war eine gute Entscheidung für mich", erzählt Hölling begeistert. „Ich bin sehr gerne hier im Werk. Denn man hat hier das Gefühl, dass die eigene Arbeit wichtig ist und dass sie wertgeschätzt wird. Es geht wirklich darum, Probleme zu lösen und Sachen besser zu machen."

Dass Hölling trotz seiner Begeisterung für ArcelorMittal und die Stahlindustrie inzwischen nur noch einen Tag pro Woche im Werk tätig ist, liegt daran, dass seine Interessen eben auf beiden Seiten liegen, Theorie und Praxis. Zunächst ließ sich die Arbeit bei ArcelorMittal gut an. Hölling wurde Leiter der Abteilung Prozesstechnologie, die sich mit praxisnahen Forschungs- und Entwicklungsfragen beschäftigt und die Studenten betreut. Das passte zunächst gut für ihn, da er seit seiner Promotion an der Hochschule als Lehrbeauftragter tätig war und nun auch bei ArcelorMittal Theorie und Praxis miteinander verbinden konnte. „Ich bin total gerne Ingenieur und ich liebe es, wenn ich Sachen berechnen kann. Und genauso geht es mir an der Hochschule. Die Arbeit mit Studierenden ist spannend, ich erkläre und diskutiere gerne."

Berufung zum Professor

Als an seiner Hochschule im Mai letzten Jahres eine Professur für chemische Verfahrenstechnik ausgeschrieben wurde, bewarb er sich - und erhielt ein Angebot. Seitdem lebt Marc Hölling mit viel Freude auf beiden Seiten, indem er Stahlwerk und Hochschule, Theorie und Praxis verbindet. Und als Vater von zwei Töchtern auch noch der Familie gerecht zu werden versucht. Vier Tage pro Woche ist er nun Professor, Lehrer und Forscher, der zudem ein Labor betreut, und einen Tag pro Woche ist er als Ingenieur im Hamburger Stahlwerk wieder mit ganz praktischen Fragestellungen konfrontiert.

Synergien für alle

Über diesen Grenzgang freut sich übrigens nicht nur Marc Hölling. Die große Nähe zur Praxis bringt den Studierenden viel konkretes Anschauungsmaterial bis hin zu Werksbesichtigungen und Problemstellungen, die kaum besser auf den Ingenieursalltag vorbereiten könnten. Für engagierte Studierende ergeben sich zudem Praktika bei ArcelorMittal,  die damit ihre Berufsvorstellungen abgleichen können. Und bei ArcelorMittal Hamburg freut man sich über angehende Ingenieure, die sich für eine Tätigkeit in einem Stahlwerk begeistern können.

Doch gerade für einen begeisterten Ingenieur und Professor ist das Hamburger Stahlwerk als das vielleicht energieeffizienteste Europas auch eine Herausforderung. Was soll man denn hier noch optimieren, könnte man denken. Aber Hölling, der sich vor allem mit Energieeffizienz und mit der Direktreduktionsanlage beschäftigt, weiß natürlich, wo er aktuell ansetzen kann: „Die großen Prozessgasgebläse sind in einem schlechten Zustand. Jetzt stellt sich die Frage: Aufarbeiten? Austauschen? Gebraucht oder neu? Das ist eine komplexe Fragestellung, um hier die beste und wirtschaftlichste Lösung zu finden." Hier ist der Ingenieur augenscheinlich in seinem Element. Und wenn alles gut läuft, entsteht damit gleich wieder ein schönes Beispiel, aus dem später einmal ein Seminarthema werden könnte. Oder eine Bachelor-Arbeit für einen zukünftigen Ingenieur der Verfahrenstechnik. Es gibt eben nichts Praktischeres als eine gute Theorie. Und es gibt wahrscheinlich nichts, was der Theorie mehr hilft, als gute Praxis.